Willy Brandt – einige Erinnerungen an ein wechselhaftes Verhältnis

Veröffentlicht am 18.12.2013 in Erfurter Notizen

Aufgewachsen in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie war Willy Brandt zuallererst ein Kindheitsheld. Ich erinnere mich noch gut an die Atmosphäre des 1972er Wahlkampfs. Meine Eltern waren vor allem deshalb erbittert, weil hier einer unter Verweis auf seine „niedere“ soziale Herkunft weggemobbt werden sollte; das war für sie wahlentscheidender als der Konflikt um die Ostpolitik. 

Willy Brandt war einer von uns, der den angestrebten gesellschaftlichen Aufstieg personifizierte. Eine der Wahlkampfkundgebungen, zu der ich mitgenommen wurde, wurde massiv von rechten Revanchisten gestört, die sehr handfest von Ordnergruppen zurückgedrängt werden mussten. Auf meinem Schulweg prangte in dieser Zeit die von der rechtsextremen Aktion W hingeschmierte Parole: „Herbert Frahm, Willy Brandt – den Verräter an die Wand“. Und das blieb Brandt auch für unseren Nachbarn, der – einst von der Waffen-SS zur FDP „demokratisiert“ – mit der sozialliberalen Koalition aus dieser austrat und von Willy Brandt bis Ulrike Meinhof viele auf seiner Liste hatte, die man an die Wand stellen sollte. Deutsche Zustände 1972 ff.  Doch trotz dieser Reaktionäre schien der gesellschaftliche Aufbruch machbar. An meinem Gymnasium trug man bis in die jüngeren Klassenstufen hinein „Mein Herz schlägt links – Willy wählen“-Buttons, die man bei älteren Mitschülern ebenso wie die ersten Kippen bekommen konnte.

Doch der erhoffte Aufbruch geriet schnell ins Stocken. Politisiert in der Jugend(zentrums)bewegung, in der von Chile 1973 bis zu den autoritären Schulverhältnissen alles verhandelt wurde, wuchs auch die Distanz zu Willy Brandt. Verantwortlich dafür war vor allem die von ihm mit initiierte Politik der Berufsverbote (der sog. Radikalenerlass), die für ein Klima der Gesinnungsschnüffelei und des Generalverdachts nach links sorgte, was in ganz Europa zu demokratischer Empörung über „le berufsverbot“ bzw. „the berufsverbote“ führte (bis sie schließlich vor europäischen Gerichten für rechtswidrig erklärt wurde, aber da waren schon zahlreiche Berufsbiographien zerstört). Wer in dieser Zeit politisiert wurde, wusste, dass für den von Nazis aufgebauten Inlandsgeheimdienst der Feind links stand – und man sich daher über seine Blindheit nach rechts nicht wundern darf, denn genau dies war sozusagen seine Systemprogrammierung. Willy Brandt hat diese Politik später – zu spät, aber immerhin - selbst als Fehler bezeichnet. Hinzu kam mit dem beginnenden Kampf gegen die Atomenergie ein neues Politikfeld, das die Sozialdemokratie – allen voran der heute von allen mystifizierte Helmut Schmidt - so gründlich verschlief, dass sich schließlich die sog. neuen sozialen Bewegungen und die Grünen – als erste Abspaltung des sozialdemokratischen Reformblocks – entwickelten. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie der Protest an den Bauzähnen vor Whyl, Brokdorf, Grohnde und anderswo niedergeknüppelt wurde – flankiert von gewerkschaftlichen Jubeldemonstrationen für die Atomenergie, zu der die IGM ihre Mitglieder ankarren ließ. Das hat Nachwirkungen bis heute. Zwar hat sich die Sozialdemokratie nach langen gesellschaftlichen und innerparteilichen Debatten vom Atomprogramm verabschiedet, aber die grundsätzliche Bedeutung der ökologischen Frage hat – bis auf kleine Minderheiten, die nach Hermann Scheers Tod keinen Sprecher mehr haben –  die Partei bis heute nicht begriffen. Die neuen Debatten um die Notwendigkeit einer Postwachstumsgesellschaft haben in der SPD überhaupt keine Verankerung, sie werden noch nicht einmal wahrgenommen, während das Wachstumsmantra den Koalitionsvertrag durchzieht. Noch jede Dreckschleuder in NRW oder Brandenburg wird von Sozialdemokraten mit dem Argument der Arbeitsplätze verteidigt.

Als 1976 der erste meiner Clique in die SPD eintrat – nach einem Willy Brandt-Auftritt auf dem Kornmarkt in Bad Kreuznach – kommentierten wir das noch höhnisch mit dem Verweis auf die historischen Schandtaten der Sozialdemokratie (die Partei, die Rosa Luxemburg auf dem Gewissen hat), obgleich wir ja selbst von Brandt angezogen worden waren. Dass ich mich 1977 in den überall geführten Organsationsdebatten der Linken für ein Engagement in der SPD entschied, hatte mehrere Gründe: ein heute kaum vorstellbares Vertrauen in die Politikform Partei/Gewerkschaft, die heroische Illusion auf eine Erneuerungsfähigkeit der Arbeiterbewegung (statt einer ausschließlichen Orientierung auf die neuen sozialen Bewegungen) und Pragmatismus. Linke Positionen konnten – so die strategische Überlegung – in der Gesellschaft nur mehrheitsfähig werden, wenn vorher in der SPD entsprechende Positionen durchgesetzt werden konnten. Anders formuliert: Man musste gewissermaßen Willy Brandt von links gewinnen, um gesellschaftliche Mehrheiten zu erreichen. Willy Brandt hatte seinen Sozialismus nicht im Offizierskasino der Nazis gelernt (so eine schön-bitterböse Bemerkung von Herbert Wehner zu Helmut Schmidt), sondern war im antifaschistischen Widerstand als Mitglied der linkssozialistischen SAP, in deren Traditionslinie wir uns mit verorteten. Wir waren vermutlich die letzte politische Generation in der SPD, die sich intensiv mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer vielen Klein- und Zwischengruppen beschäftigte. Die hier aufgeworfene Frage nach dem Versagen der Arbeiterbewegung vor der nazistischen Gefahr und dem Scheitern der deutschen Demokratie blieb bis heute eine Grundachse meines politischen Denkens.

Willy Brandt war ein Meister der Ambivalenz. Obwohl er in den innerparteilichen Debatten der frühen 1980er Jahre in den Sachfragen lange Zeit auf der anderen Seite stand, blieb er um strategische Integration und Mehrheitsfähigkeit bemüht. Er hat den sog. NATO-Doppelbeschluß, der zur Stationierung neuer Atmoraketen in Deutschland führen sollte, lange Jahre mitgetragen, auch wenn er die Verhandlungsoption immer stärker gewichtete. Die Friedensbewegung mobilisierte in den 1980er Jahren Millionen auf die Straße, um gegen diese neue Runde im Wettrüsten zu demonstrieren. Die SPD reagierte mit Abschottung, Parteiausschlußverfahren und Denunziation auf diese neue Bewegung, die von den Jusos aktiv mitgetragen wurde. Ein von Richard Löwenthal und Gesine Schwan verfasstes Papier denunzierte die neuen sozialen Bewegungen und setzte gegen den versuchten Integrationskurs von Willy Brandt und Peter Glotz auf scharfe Abgrenzung. Das Ende der sozialliberalen Koalition und der Kanzlerschaft Schmidts beendete dieses von partieller Öffnung und Abschottung zugleich geprägte Kräftegleichgewicht. 1983 sprach Willy Brandt auf der großen Friedensdemonstration in Bonn. Sein Auftritt war in den Gremien der Friedensbewegung durchaus umstritten, aber mit ihm sollte gewissermaßen der gesellschaftliche Meinungswandel repräsentiert werden. Viele fanden dann seine Rede zu nebulös, denn es ging um „ein Nein ohne jedes Ja zur Raketenstationierung“, wie es damals im Aktionskonsens hieß. Aber gleichwohl demonstrierte der Auftritt die Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Einen Monat nach dieser Demonstration lehnte der SPD-Bundesparteitag die Stationierung amerikanischer Atomraketen ab, Helmut Schmidt wurde nur noch von einer Handvoll Getreuen unterstützt und bei seiner Rede regte sich keine Hand zum Applaus. Ein Stück dieser machtkritischen Distanz sozialdemokratischer Delegierter  wünschte man sich heute auf SPD-Parteitagen mit ihren Selbstbeweihräucherungsritualen.

Willy Brandts vor dem Hintergrund der neuen sozialen Bewegungen und des Aufstiegs der Grünen entwickelte Formel von der „neuen Mehrheit links von der CDU“ orientierte auf Bündnisfähigkeit als Schlüssel der Mehrheitsfähigkeit. In den letzten Jahren der alten Bundesrepublik bündelten sich diese Prozesse in der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm der SPD, in der die Impulse der neuen sozialen Bewegungen aufgegriffen wurden. Der programmatische Einfluß der Parteilinken war zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt. Doch dieses Berliner Grundsatzprogramm – konzeptionell späteren Programmen weit überlegen - war schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung Geschichte, denn die SPD wurde durch den deutschen Vereinigungsprozess überrollt. Willy Brandt war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Parteivorsitzender. Mit seinem Rücktritt schloss sich unwiederherstellbar jener politische Erfahrungszeitraum, der die SPD nach 1945 mit der Tradition der Arbeiterbewegung verband. Mit ihm war der letzte große Repräsentant der Arbeiterbewegung abgetreten, fand die Arbeiterbewegungsgeschichte der Sozialdemokratie ein Ende.

 

Im Zuge des Vereinigungsprozesses hatte Willy Brandt noch große Auftritte. Doch die Traditionen der alten Sozialdemokratie in Sachsen und Thüringen waren unwiederbringlich zerstört, die Ost-SPD blieb eine Sektengründung. Wie viele Sozialdemokraten/West stand ich dem Vereinigungsprozeß skeptisch gegenüber. Willy Brandts Redeweise „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ empfand ich als gefährliche Naturalisierung politischer Prozesse. Ich erinnere mich noch gut eines SPD-Unterbezirksparteitags in Mainz, bei dem Peter Glotz die re-nationalisierenden Diskurse scharf analysierte und dem langjährigen Mainzer Bürgermeister Jockel Fuchs, der in seiner Gegenrede auf die „nationale Tradition“ Kurt Schumachers verwies, knapp beschied, in diese nationalistische Partei wäre er auch nicht eingetreten. Im Unterschied zu Brandt und Bahr hatten wir kein gesamtdeutsches Gedächtnis mehr, sondern waren westeuropäisch orientiert. Auch Nicaragua lag uns näher als die DDR.

 

Jahre später stand ich vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Gettoaufstands und dachte an Willy Brandts Kniefall, gegen den die Rechte jahrzehntelang hetzte. Was für eine Jahrhundertgeste! Was für eine Verantwortungsübernahme durch den Emigranten und Widerstandskämpfer aus dem Land der Jasager, Mitmacher und Täter. Ich habe noch mit zahlreichen Emigranten und Widerstandskämpfern sprechen können. Die Erfahrungen von Flucht, Ausgrenzung und politischer Verfolgung hatten sich viele in die Haut eingeschrieben. Ihnen blieb ein Gefühl der Unzugehörigkeit, auch wenn sie sich im demokratischen Neuaufbau engagierten. Vielleicht blieb auch Brandt ein Unzugehöriger. „Soviel ist gewonnen, wenn einer aufsteht und Nein sagt“, heißt es bei Brecht. Brandt war verletzlich genug, um an seinem Nein festzuhalten, als sich die deutsche Mehrheit willig den Mörderbanden anschloss. Es gab nicht viele, viel zu wenige, die diese Kraft zum Nein hatten und dass sie es überhaupt gab, ist entscheidend.

Was würde Willy Brandt zu der heutigen Sozialdemokratie sagen, bei der selbst zwei historische Wahlniederlagen nicht zu einer selbstkritischen Besinnung führen, obwohl wir dadurch wahlpolitisch auf die Ergebnisse der Jahrhundertwende – wohlgemerkt der vorletzten Jahrhundertwende – zurückgeworfen wurden? Die heutigen Sozialdemokraten stammen nicht – wie Brandt - aus den Niederungen dieser Gesellschaft, mehr noch, sie haben mit der Gesellschaft unten keine sozialen Berührungsflächen mehr. Die Warnungen seines einstigen Bundesgeschäftsführers Peter Glotz vor einer Zwei-Drittel-Gesellschaft sind heute längst Realität. Es ist mehr als peinlich, dass uns dies heute ausgerechnet von der Bertelsmann-Stiftung ins Stammbuch geschrieben werden muss. Die Kombination von sozialer Exklusion und politischer Hoffnungslosigkeit ist ein gefährliches Gemisch. Überall in Europa sind rechtspopulistische Formationen als neue Arbeiterparteien auf dem Vormarsch, bereit das politische Terrain zu besetzen, das die Mittelschichtsblasen der neuen Sozialdemokratie verlassen haben.

 
 

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